enthüllungen über die zeit
Im Rahmen von Entwicklungen in und mit der Kunst, schrieb das Von der Heydt-Museums die „Barmer Biennale – WeltAusstellung“ aus. Es wurden von 81 Bewerbungen aus Wuppertal und Umgebung von einer Jury 25 Werke und Projekte ausgewählt. theater&mehr ist stolz dabei gewesen zu sein. Das Von der Heydt-Museum Wuppertal veranstaltet alle zwei Jahre in der Kunsthalle Barmen im Haus der Jugend eine Ausstellung zum aktuellen Kunstschaffen in der Region. Jede der Ausstellungen ist durch einen besonderen Schwerpunkt – ein Medium, ein Thema – charakterisiert. In diesem Jahr lautete die thematische Vorgabe „WeltAusstellung“. Bildquelle: © Jörg Pauli | theater&mehr

enthüllungen über die zeit

„Ist das Leben nicht hundertmal zu kurz für Langeweile?” (Friedrich Wilhelm Nietzsche)

„Wir stehen nicht nur kalendarisch am Anfang eines neuen Jahrhunderts und Jahrtausends, sondern in vielfältiger Form tritt Neues in unser Leben.

Die sogenannte Globalisierung der Wirtschaft, die sich rasant ausbreitenden neuen Medien, neue Zweige der Wissenschaft und Technik vermitteln dabei vielen Mitmenschen ein Lebensgefühl, dass je nach persönlicher Einstellung zwischen Befürchtung und Hoffnung schwankt.

Auch wenn es in den letzten Monaten manche Rückblicke (z. B. Das XX. Jahrhunderts, Berlin; Augenblicke des Jahrhunderts, Wuppertal) und Vorgriffe auf die Zukunft (Expo, Hannover) gegeben hat und gibt, so kann es doch reizvoll sein zu beobachten, inwieweit und ob sich solche Umbrüche auch in der Kunst der hiesigen Region niederschlagen.

Wie gehen Künstlerinnen und Künstler aus dem Bergischen Städtedreieck und den angrenzenden Orten mit dieser Herausforderung um? Überwiegen bei einer solchen Bestandsaufnahme traditionelle Seh- und Darstellungsweisen, dominiert die Auseinandersetzung mit Multimedia und Zeitgeist oder gehen die Kunstschaffenden unbeirrt ihre einmal eingeschlagenen Wege?“ so die Fragen der Ausschreibenden.

die bewerbung

Auf die Ausschreibung „Barmer Biennale – WeltAusstellung“ bewarb sich theater&mehr in Kooperation mit dem Bergischen Künstlerbund BKB e.V. (Vorsitzende Ute Küppersbusch) und dem Musikensemble Accenti aus Wuppertal (musikalischer Leiter Werner Psoch) mit einem spartenübergreifenden Konzept aus den Bereichen Theater, Bildende Kunst und Musik.

Wir spannen seit Jahren den Bogen zwischen den künstlerischen Darstellungsformen, nicht zuletzt deshalb, weil wir – und dort ist unsere Anknüpfung an das Thema „Weltausstellung“ – die Zukunft der Künste als Ausdruck menschlichen kreativen Schaffens als ein Zusammengehen im Prozeß selbst und im Ergebnis sehen.

In Zeiten der auch künstlerischen Vereinzelung bündeln wir unsere Kräfte und führen unsere unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Darstellungsfähigkeiten zu einer gemeinsamen Arbeit zusammen. Zukunft oder „die Welt von morgen“ benötigt unserer Ansicht nach Modelle, die in ihrer Aussage und Entstehung Alternativen zur (sich verselbständigenden) gesellschaftlichen Entwicklung darstellen.

das konzept

Jeder Begriff wird durch eine Aktion inhaltlich beschrieben. Zur Visualisierung der einzelnen Aktionen werden sukzessive gegen den Uhrzeigersinn Stelen (Fahnen auf fünfeckigem Gestell) enthüllt, so dass sich erst mit der letzten Enthüllung die Vollständigkeit unserer Betrachtung von Zeit ergibt. Dazu haben wir fünf jeweils eigenständige Metaphern gewählt:

Tempus Non Convenit (Selbstzeit)
Ein Mensch sinniert über die Zeit an sich und mit ihm. Was passiert, wenn die Zeit in neuen Wirklichkeiten erscheint? Sie fließt nicht mehr gleichmäßig linear dahin, sondern stockt, springt, kehrt sich um oder verschwindet. Die zugehörige Fahne zeigt das Bild eines angeschnittenen Ziffernblattes.

O Tempora! O Mores! (Oh, Zeiten! Oh, Sitten!)
Hier wird zunächst die Fahne enthüllt, auf die ein Text aufgebracht ist und der den Zuschauern vorgetragen wird. Der Zuschauer hat die Möglichkeit, den Text wirken zu lassen, darüber nachzudenken, Zeit mit ihm zu verbringen, in sich zu kehren, zu meditieren, sich zu ärgern, Zeit zu vergeuden.

Tempus Fugit (Die Zeit fließt)
Ein hoch installiertes Behältnis ist mit Sand gefüllt, der durch ein Loch zu Boden fällt (Prinzip der Sanduhr). Der betrachtende Zuschauer kann auslaufenden Sand wieder in das Behältnis geben, um den Fluss der Zeit/des Sandes in Gang zu halten. Unterläßt er es, bleibt das Mobile stehen, sobald das Behältnis leer ist. Am Ende der Performance wird die dazugehörige Stele enthüllt und zeigt eine Sanduhr.

Consecutio Temporum (Die Zeitenfolge im Nebensatz)
Musiker spielen eine eigens für diese Fahne komponierte Zeitfuge, die die Themen der einzelnen Fahnen aufgreift. Die Fahne selbst zeigt ein Notenbild.

Memento Mori (Die verlorene Zeit – Gedenke des Todes)
Die Stele enthält fünf im Pentagramm angeordnete Untertassen, die jeweils ein Zitat aller Stelen enthalten. Die Untertasse, ein durch die Evolution entwickelter Zivilisationsgegenstand, symbolisiert in ihrer eigentlichen Überflüssigkeit die Vergänglichkeit. Durch die Integration in dieses Projekt erfährt sie eine Metamorphose zum Träger von Kulturgut. Gleichzeitig haben die Rezipienten die Möglichkeit, eine oder mehrere dieser Zitate zu erwerben, ein Stück “unserer” Zeit mitzunehmen und somit ihrem Ursprung als (Jäger und) Sammler näher zu kommen. Die Anordnung als Pentagramm ist als Wiederholung auf 2 -dimensionaler Ebene des Pentagons des Gesamtobjektes zu sehen. Beide sind gleichzeitig die einzige Möglichkeit 5 Objekte gleichberechtigt darzustellen, ohne ein Neben-, Nach- oder Hintereinander darstellen zu müssen.

enthüllungen über die zeit: Konzept Frontsicht

enthüllungen über die zeit: Konzept Rundsicht
Enthüllungen über die Zeit – Darstellung der räumlichen Anordnung: Das Objekt selbst besteht aus 5 Stelen in der Größe 300cm x 150cm, die als Pentagon gestellt sind. Die Stelen bestehen aus unterschiedlichen Materialien wie Stahlband, Kupfer, Holz, Textil etc. Bildquelle: © Jörg Pauli | theater&mehr

 

 

Der Jahrtausendwechsel als Bündelung der Aufmerksamkeit der Menschen auf einen mathematisch-astronomischen Zeitpunkt gerät zusehends zu einer wahnwitzigen Hochstilisierung selbst profanster Alltäglichkeiten: die „Millennium-Schokolade“ oder das „Jahrtausend-Spülmittel“ gehören mittlerweile zu den gängigen Verlautbarungen der Werbeindustrie, die “Millennium-Fähigkeit” des Heim-PC bewegte alle Gemüter.

Zum Attribut degradiert erfährt hier der Zeitbegriff eine Vergegenständlichung, wird mystisch belegt, ist Synonym für sämtliche denkbaren Katastrophen-szenarien. Die Ware Zeit unterliegt, wie alle Güter, plötzlich der Vermarktung und Instrumentalisierung. Zeit, als Begriff schon ein unzureichendes Konstrukt für eine inhaltlich nicht abgrenzbare Vielfalt von Elementen, wird – obwohl der Moment günstig und naheliegend wäre – nicht reflektiert.

enthüllungen über die zeit: Objekt verhüllt
Das Objekt verhüllt. Bildquelle: © Jörg Pauli | theater&mehr

 

enthüllungen über die zeit: Objekt enthüllt
Das Objekt enthüllt. Bildquelle: © Jörg Pauli | theater&mehr

 

Hier greift der Ansatz unseres Projektes „Enthüllungen über die Zeit“. Wir ermöglichen dem Betrachter/Rezipienten kunstformübergreifend die Auseinandersetzung mit von uns ausgewählten Aspekten der Zeit.

Mit der letzten Performance sind alle Stelen enthüllt, das Gesamtbild ist komplett, wird jedoch durch die Zerstörung (den Verkauf) der Untertassen der letzten Fahne zugleich wieder in Frage gestellt aus dem Gedanken heraus, Zeit kennt keinen Anfang und kein Ende, ist nie statisch und immer unberechenbar. So ist Memento Mori (Gedenke zu Sterben) der verlorene Moment des Neubeginns. Soweit unser Konzept.

der wandel und die entwicklung

Das einzig Stete ist der Wandel. So auch bei diesem Projekt. Von der ersten Idee bis zur Realisation veränderten sich die Stelen, die Performances und die Musik ständig durch neue Ideen und neue Impulse, durch Reduktion und Expansion. Deshalb ist eine kongruente Reproduktion der Stelen nicht möglich.

Die Umsetzung verteilte sich auf den Bergischen Künstlerbund BKB e.V.: Ute Küppersbusch (Vorsitz BKB e.V., Idee und Konzept), Melanie Schwarz (Malerin; Realisation der Stelen), Berthold Welter (Bildhauer; Realisation der Stelen), Detlef Mischo (Maler und Grafiker; Realisation der Stelen), auf ACCENTI: Britta Hartung (Musikerin; Bajan und Komposition der Zeitfuge) und Werner Psoch (Musiker; Sopransaxophon). theater&mehr übernahm die Projektkoordination, die Inszenierung und Darstellung des Schauspiels sowie die Idee und Konzeptgestaltung.

enthüllungen über die zeit: Zeitensemble
Das Zeitensemble. Bildquelle: © Jörg Pauli | theater&mehr