Begegnungen in der Kunst können den Blick weiten. Bildquelle: © Jörg Pauli | theater&mehr

begegnung in der kunst

„Der wahre Sinn der Kunst liegt nicht darin, schöne Objekte zu schaffen. Es ist vielmehr eine Methode, um zu verstehen. Ein Weg, die Welt zu durchdringen und den eigenen Platz zu finden.” ( Paul Auster)

Der Duden definiert den Begriff Begegnung wie folgt:

Be  |  geg  |  nung, die; [Substantiv, feminin]. Das Sichbegegnen, Zusammentreffen oder sportlicher Wettkampf, Zusammenkunft, Zusammentreffen, aber auch Konkurrenz, Match, Partie, Spiel, Wettbewerb.

Was meint der Begriff? Eine einfache Definition des Begriffes ist gar nicht möglich, denn als was Begegnung aufgefasst wird, wird von jedem unterschiedlich gesehen. Begegnung, das meint eine besonders geartete Beziehung und erst wenn der Mensch als Begegnender hinzutritt, scheint man mit Recht von einer Begegnung sprechen zu können. Der Mensch entscheidet selbst von Fall zu Fall, dafür oder dagegen. Damit gewinnt das Zusammentreffen zweier Menschen eine neue Möglichkeit. Nun kann der Mensch entscheiden, ob er stehenbleibt, oder ob er weitergeht. Der Mensch kann die Zufälligkeit des Treffens aber auch überschreiten und in eine tiefergehende Beziehung eintreten, die wir als eigentliche Begegnung bezeichnen.

Spuren in der Kunst oder Spuren hinterlassen? Bildquelle: © Jörg Pauli | theater&mehr

In der Begegnung mit Kunst scheint es ähnlich gelagert zu sein. Die Eigentümlichkeit der Begegnung im umgangssprachlichen Sinne besteht darin, dass verschiedene Faktoren zu einer Begegnung gehören, dass aber ihr Zusammenspiel entscheidet, ob es zu einer solchen Begegnung kommt oder nicht. Was im Vordergrund steht ist die Betrachtung des Kunstwerkes. Und das Betrachten verkörpert eine komplexe geistige Leistung und bedeutet inzwischen immer auch: sich zu erinnern, wie man zum ersten Mal etwas Unbekanntem begegnete.

Auch handelt es vom Künstler und seiner Begegnung mit dem Inhalt, dem Prozess, dem Material, der Methode. Trifft der Betrachtende auf ein Kunstwerk, kann er eine Erfahrung machen, die viel über die Wahrnehmungs-bedingungen unserer Zeit verrät. Aus der unendlichen Fülle von gesammelten Eindrücken entsteht manchmal ganz plötzlich das subjektive Gefühl oder auch geradezu die Gewissheit einer Begegnung. Das Schöne an einer besonderen Begegnung mit einem Kunstwerk ist, dass man in ganz kurzer Zeit sehr viel Neues und Unterschiedliches erfährt.

Das Kunstwerk unterscheidet sich vom Leben, indem ein Betrachter sich immer permanent neu fragen kann: Wie betrachte ich, welche Eindrücke habe ich, und wie sind meine Begegnungen zu verstehen? Kunstwerke, die begeistern, lassen durch ein langes und wiederholtes Betrachten immer wieder Neues zu entdecken. Das nachfolgende Zitat stammt ist bei weitem nicht aktuell, im Gegenteil, sondern aus einem der spannendsten Texte, die im 18. Jahrhundert über Kunst geschrieben wurden: aus Gottlieb Ephraim Lessings „Laookon oder die Grenzen der Malerei und Poesie (1766)“:

„Was das Auge mit einem Male übersiehet, zählt der Dichter uns merklich langsam nach und nach zu, und oft geschieht es, dass wir bei dem letzten Zuge den ersten schon wieder vergessen haben.“

Mit heutigen Worten erläutert, heißt es, wir brauchen Zeit, um zu verstehen, wie wir uns etwas komplexes Ganzes vorstellen, während wir es betrachten. Viel kürzer könnte man fragen: Was ist für uns gerade in der Begegnung mit Kunst relevant?

Jeder von uns versucht das gerade Passende, Relevante zu erkennen. Auch in einer Ausstellung ergeht es uns manchmal ähnlich: Wir suchen oft nach einem Werk, das fasziniert und berührt, das an etwas erinnert, was wir erst noch kennen lernen wollen, und manchmal auch etwas, das uns die Frage stellt, was Kunst mit unserem eigenen Leben zu tun hat. Vielleicht hat Alexander Kluge die Antwort: „Kunst ist die Fähigkeit Sachlichkeit mit Empathie zu verbinden.“

Dann verbinden wir mal: Es scheint als leben wir inmitten eines exzessiven Konsumrausches, der längst den Charakter eines Tanzes auf dem Vulkan angenommen hat, in dem sich zugleich Unsicherheit und Angst vor Kriegen, Terroristen, Migranten, der Zukunft ausbreiten. Ein Gefühl des Ausgeliefertseins greift um sich, während wir mit den Folgen unserer Taten im Kolonialismus, der Ausbeutung der Erde und ihrer Bewohner, der Zerstörung der Natur, der Entfesselung des Geldwesens und der Herabwürdigung der Menschen zu einer manipulierbaren Masse konfrontiert werden. Und mitten drin die Kunst.

Begegnung? Bildquelle: © Jörg Pauli | theater&mehr

Und dort ist die Begegnung mit Kunst zutiefst aufrüttelnd, weil sie nichts Historisches, Vergangenes, zeitgebunden Programmatisches hat, sondern auf den Dreh- und Angelpunkt verweist, von dem allein Heilung für das Leiden der Welt ausgehen kann: den Menschen selbst. In der Kunst erst geht uns eine Welt auf. „Wer Kunst sagt, spricht vom Menschen.“, sagt Prof. Dr. Dr. Holger Zaborowski, Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie und philosophische Ethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar. „Worauf es ankommt, ist eine scheue Gelassenheit für das, was sich in der Begegnung zwischen Mensch und Kunstwerk ereignet.“

Erst, wenn wir unser Denken zu einem schöpferischen Erkennen des Lebendigen weiterentwickeln, können wir die Krise lösen. Die Antwort von Joseph Beuys ist die Idee der sozialen Plastik, an der jeder Mensch als einzigartiges, kreatives und fehlerbehaftetes Wesen mitarbeitet und die sich in seinem berühmten Satz ausdrückt: „Jeder Mensch ist ein Künstler!“ Er meinte damit keineswegs, jeder Mensch sei ein Bach oder Picasso, sondern dass jede menschliche Handlung Teil eines Kunstwerkes ist, das die Welt real verändert. Die spirituelle Kraft dieses Satzes ist revolutionär, weil sie die Verantwortung dahin gibt, wo sie ihren Ursprung hat: beim Menschen selbst, und zwar in jedem, jederzeit und an jedem Ort, an dem er handeln kann.

Wagen wir es also in der Begegnung – nicht nur in und mit der Kunst – Mensch zu sein und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Zum Schluss noch ein Zitat von Beuys. Ich kann mir im Augenblick keinen Satz denken, der wichtiger wäre.

„Das einzige, was sich lohnt, aufzurichten, ist die menschliche Seele.“